DER HELIX-HOCHBAU
DER HELIX-HOCHBAU –
Ereignisse zum erweiterten Kunstbegriff
Im Oktober 1995 fiel im Kunsthaus Essen der Startschuß für das Projekt DER HELIX-HOCHBAU – Ereignisse zum erweiterten Kunstbegriff. Etwa ein Jahr lang fanden an wechselnden Stellen des Gebäudes (Heizungskeller, Musikprobenraum, Toilette, Filmraum, Küche, Bürgervereinsraum, Kopierraum usw.) dreizehn Veranstaltungen (Performances, Interaktionen, Vorträge usw.) statt, und zwar so, daß die sukzessive Abfolge sämtlicher Aufführungsorte nach und nach eine raumgreifende imaginäre Spirale bildete, die sich Stück für Stück, Stockwerk für Stockwerk und in einer beständig höher kreisenden Bewegung vom Keller aus durch das Kunsthaus nach oben schraubte. Dabei erfolgte die Auswahl der Geschehnisse nicht willkürlich: Zum einen war jedes Event auf die spezifischen Funktionen und sozialen Prozesse seiner unmittelbaren Umgebung bezogen (z.B. Küche: Thema ›Nahrung, Essen‹, Toilette: ›Hygiene‹, Kopierraum: ›Information, Reproduktion‹). Und zum anderen handelte es sich nicht um herkömmliche Kunstwerke mit ihren festgelegten Produktions-, Vertriebs- und Rezeptionsmustern, sondern ausschließlich um grenzgängerische Arbeiten – gewissermaßen Kunst im weitesten Sinne. So entwickelte sich durch die Thematisierung der in ihm ablaufenden Prozesse eine Art instrumentelle Befragung des Hauses. Und insgesamt schritt als im Bewußtsein zu erzeugende imaginäre Verbindungslinie zwischen den (durchaus auch für sich stehenden) Veranstaltungen Stück für Stück der Hochbau der Helix fort – als eine große in den Raum gestellte Denkfigur …
Konzept und Projektleitung: Matthias Schamp
Konzeptionelle und organisatorische Mitarbeit: Claudia Heinrich, Christian Paulsen, Karl-Heinz Mauermann
Texte auf dieser Seite aus der Dokumentation (Katalog)
VERANSTALTUNGSKETTE
Als Veranstaltungskette stellte der HELIX-HOCHBAU den organisatorischen Rahmen für eine bestimmte Anzahl künstlerischer Ereignisse bereit. Weil nur eine begrenzte Menge von Einladungen ausgesprochen werden konnte, mußte natürlich im Vorfeld eine Auswahl an Positionen getroffen werden, die im Projekt-Zusammenhang als spannend empfunden wurden. Zentrales Anliegen war es indes, die Autonomie der einzelnen Positionen unangetastet zu lassen. Insofern wurde die Ausgestaltung der Ereignisse vom jeweiligen Künstler in größtmöglicher Entscheidungsfreiheit bestimmt, wobei die Veranstalter (im Rahmen ihrer finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten) dessen Vorgaben so getreu wie möglich auszuführen versuchten. Dies erklärte Ziel, die jeweils unterschiedlichen Anforderungen der diversen Standpunkte weitestgehend zu berücksichtigen, führte dann auch zu vom Charakter her äußerst unterschiedlichen Veranstaltungen, die für die regelmäßigen Besucher, die das Projekt in seiner Gesamtheit mitverfolgten, gerade auch durch ihre divergierenden Erscheinungsformen permanente Überraschungen bereithielten. Der HELIX- HOCHBAU stiftete dazu eine Art gedankliche Verbindungslinie, die die Positionen nicht programmatisch vereinheitlichen sollte, son- dern im Gegenteil durch ihre Vergleichbarkeit die Individualität der Standpunkte, die im folgenden kurz skizziert werden, herausstellen wollte:
1. Ereignis (05. Oktober 1995) Otmar Sattels Materialperformance mit hefehaltiger Gärflüssigkeit in festverschlossenen Weinflaschen erzeugte im Heizungskeller ein mehrstündiges Konzert knallender Korken und senkrecht herausschießender Fontänen.
2. Ereignis (26. Oktober 1995) Mark Formaneks interaktive Videospiele (‚Luftanhalten‘, ‚Nicht-Blinzeln‘, ‚Kampftrinken‘ etc.) im Vorraum mit Kicker funktionierten in geselliger Partyatmosphäre zwischen einem Akteur auf dem Monitor und dem mitspielbereiten Besucher, der seine Kondition an der seines Gegenübers messen wollte.
3. Ereignis (02. November 1995) Wolfgang Spanier bezeichnete den ehemaligen Luftschutzkeller mit einer festinstallierten ‚Gedenk‘-Tafel und verlas am Allerseelentag in einem fast einstündigen kontemplativen alphabetischen Vortrag das komplette Vornamenregister aus seinem Familienstammbuch.
4. Ereignis (16. November 1995) Claus van Bebber führte unter dem Motto ›Übungsraum‹ im privaten Musikprobenkeller des Hausmeisters eine vielfältige improvisierte Musikperformance auf – begleitet von Turnübungsfilmen und -tonträgern und musikalischen Intermezzi live und als Konserve, wobei auch alte Demo-Bänder aus dem Kunsthaus-Archiv ihren Einsatz fanden.
5. Ereignis (30. November 1995) Stephan Dillemuth hielt in einem ehemaligen Klassenzimmer einen so unterhaltsamen wie tiefgründigen Dia-Vortrag über seinen sehr persönlichen Werdegang vom akademisch ausgebildeten Maler hin zum Organisator ungewöhnlicher Ausstellungen und Veranstaltungen auf der Schnittstelle zwischen Alltag, Kunstbetrieb und Kunst.
6. Ereignis (14. Dezember 1995) Georg Winter veranstaltete im Vorführraum eine Medienberatung als Vertreter von ›Ukiyo Camera Systems‹. Er führte exemplarisch einzelne Holzkameras, -videogeräte u. a. vor, erklärte ihre professionelle Handhabung und referierte in seinem ›Empfangsstudio‹ über die angemessene innerliche und körperliche Haltung des Konsumenten vor dem Fernsehgerät.
7. Ereignis (13. Juni 1996) Monika Günther und Ruedi Schill vollführten mit stillen ritualisierten Grabe- und Bauhandlungen auf der Rasenfläche im Vorgarten eine poetische Nacht-Performance – eine Kette von symbolischen, Projektionen auslösenden Einzelbildern, die von kleinen, auf markante Punkte innerhalb des Ensembles gesetzten Blinklichtern illuminiert wurden.
8. Ereignis (01. Februar 1996) Boris Nieslony, Initiator von Kommunikationsnetzwerken und ›Jour-fixe‹-Veranstaltungen, war am Tisch im Caféraum nun selbst der geladene Gast und gestaltete den Abend als ganz persönliches Performance-Experiment: er inszenierte eine rein sprachliche Selbstdarstellung, eine Grundsatz-Diskussion über seine Kunst unter gänzlichem Verzicht auf Anschauungsmaterialien.
9. Ereignis (22. Februar 1996) Inge Broska deckte eine lange Tafel mit blütenweißen Tischtüchern und erzeugte in der Küche unter Schweineschlachtgeräuschen auf Tonkonserve mit Hilfe einer alten Wurstmaschine und gewürztem Mett eine 15 m lange Bratwurst, die sie briet und den Anwesenden unter Deklamation von Essenssprüchen ›zum Fraß vorwarf‹.
10. Ereignis (07. März 1996) Am Standort des Kunsthauskopierers zerlegte Wolfgang Hainke in einer mehrstündigen Aktion ein Kopiergerät, kopierte die abmontierten Teile auf einer baugleichen ›Zwillingsmaschine‹ und kopierte wiederum diese Kopien in mehreren Farbdurchläufen auf ca. 60 m Endlospapier, das – als Bodenfries einmal quer durch das Kunsthaus ausgelegt – die ästhetische ›Wiedergeburt‹ funktionaler Technik repräsentiert.
11. Ereignis (21. März 1996) Christian Hasucha organisierte für den Bürgervereinsraum eine Veranstaltung in der Veranstaltung. Er schickte die Besucher einzeln auf eine direkt über dem Sitzungstisch installierte hohe Rampe; von dieser exponierten Stellung aus konnten sie drei Minuten lang ohne direkte Beteiligung der Tagung des Bürgervereins ‚Gottfried-Wilhelm-Kolonie‘ beiwohnen und dabei selbst von den diskutierenden Vereinsmitgliedern in Augenschein genommen werden.
12. Ereignis (02. Mai 1996) Christine Biehler inszenierte im hellerleuchten Toilettenraum ein beklemmendes ›lebendes Bild‹: um eine bäuchlings auf dem Boden einer verschlossenen Toilettenkabine liegende Frau preßten sich unablässig weiße Seifenschaumskulpturen aus Waschbecken und Kloschüssel empor, derweil sporadische Flötentöne erklangen und eine Nasenpartie auf Video in einem unregelmäßigen Rhythmus Atemgeräusche absonderte.
13. Ereignis (04. Juli 1996) Die freundliche INGOLD-AIRLINES-Crew bewirtete alle wartenden Gäste an den Fenstern der Aussichtsetage mit Snacks und Erfrischungen. Gegen 22.30 Uhr ertönte vom Schulhof her Flughafenlärm, Turbinengeräusche, die grünen und roten Startbahn-Positionsleuchten aus bengalischem Feuer und großen Feuerrädern wurden gezündet – und der IA-Jet startete und stieg auf in den Luftraum.